Pesche, du kannst auf eine lange und beeindruckende Kletterlaufbahn zurückblicken. Dabei hat dich besonders eines nie verlassen: die Faszination, Neues zu entdecken!
Lange wurde gerätselt, an welchen Felsen du dich in letzter Zeit wohl herumtreibst. Alle wussten, dass kürzertreten nicht zu dir passt. Endlich ist die Katze aus dem Sack. Sag uns doch, warum hast du das so lange geheim gehalten?
Pesche: Neue Kletterrouten oder Gebiete geheim zu halten war nie meine Art. Da mich die Haupterschliesser Tinu und Röfe jedoch eindringlich baten, wenn nicht sogar eher befahlen (2 x Augenzwinker), den Mund zu halten, bis der Kletterführer erscheint, habe ich natürlich mitgespielt und, wenn es sein musste, Notlügen erfunden. Als ich einmal in der Bar von Tiefengraben auf der Rückfahrt nach einem langen Bohrtag einen alten Kletterkollegen traf und dieser mich fragte wo ich gewesen war, gab ich zur Antwort, dass ich für Elmer Citro im Schluckhalstal einen Werbedreh gemacht hätte. Alles erstunken und erlogen natürlich (Pesche lacht herzhaft).
…was du ja immerhin schon mal echt gemacht hattest.
Das ist aber eine uuuralte Geschichte. Tempi passati.
Warum hast du den weiten Weg in die Innerschweiz immer wieder auf dich genommen, wenn für dich doch das Berner Oberland oder neustens der Jura viel näher liegen?
Am Anfang zögerte ich, ob ich mir als Berner wirklich an den urchigen Innerschweizer Felsen die Finger verbrennen will. Man kennt ja die sturen Geissgrinden dort hinten (Pesche hält sich theatralisch beide Hände vor die Augen). Aber als offener Mensch bin ich auch dort auf die Menschen zugegangen und habe mit ihnen das Gespräch gesucht. So findet man immer eine Lösung, (Pesche zögert)…oder fast immer. Und wenn nicht, kann eine güllenverschmierte Felswand schon mal der Preis sein.
Was ist denn für dich als Auswärtiger gefährlicher: der Bauer mit der Mistgabel oder die lokale Kletterszene?
Der war gut! (Pesche lacht herzhaft). Ehrlich gesagt, es ist nie falsch, die Samthandschuhe anzuziehen. Denn Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Ich würde aber sagen, den grössten Mut haben eindeutig Tinu und Röfe bewiesen, ebenfalls beides Berner, darüber hinaus noch Unbekannte in der Szene. Sie gelten ja offiziell als die Entdecker und Haupterschliesser von Gischterwäng.
Warum sagst du «gelten offiziell als Entdecker»?
Weil es eigentlich nicht ganz stimmt mit dem «Entdecken». Ich hatte genau genommen schon fünf Routen eingebohrt, als die beiden dazu gestossen sind. Und in den Siebzigerjahren wurde in der Südwand rechts vom Sektor Beatecéüse auch schon geklettert. Ein paar rostige Schlaghaken bezeugen das eindeutig. Aber egal, Tinu und Röfe haben wirklich viel Arbeit geleistet und es bedeutet ihnen sehr viel, als Entdecker zu gelten. Es soll ihnen vergönnt sein.
Was ist denn das Besondere an diesem neuen Klettergebiet?
Es ist schlicht genial! (Pesche beginnt Endorphine auszuschütten): Eine einmalige Gesteinsart, perfekte Kletterlinien, grandiose Umgebung! Routen wie der Ängilochstreifen 8b+, Saver sniffing 8a und Chüeuschaft 8a+ zählen einfach zum Geilsten, was ich je eingebohrt habe. Die Kletterei an den grauen Streifen erinnert selbst diejenigen an Céuse, die gar nie in Céuse waren. Ich mache mir jedoch ernsthafte Sorgen wegen des Suchtpotenzials dieses Sektors (auf Pesches Stirn bilden sich ehrliche Sorgenfalten). Weniger wegen mir selbst, aber müssen wir nicht die jungen Kletterer schützen? Fakt ist: Eine Klettersucht kann gravierende gesundheitliche und gesellschaftliche Konsequenzen mit sich bringen: Die Palette reicht von Arthritis über Sozial-Isolationitis bis hin zu kompletter Ruinitis.
Wie möchtest du denn die junge Klettergilde schützen?
Auf verschiedenen Ebenen: zunächst mit der 18-Jahre-Altersgrenze beim Kauf des Kletterführers. Dann muss endlich das geplante mehrstufige Zertifizierungssystem eingeführt werden. Wie beim Autofahren ist dann Klettern nur noch mit Kletterschein möglich. Und als Drittes müssen wir bei den Kletterkursen ansetzen und Klettersuchtprävention konsequent in die Kursinhalte reinpacken (Pesche erhebt schulmeisterlich den Zeigefinger).
Da habt ihr euch einiges vorgenommen!
Auch im Führer wurde auf einige wichtige Punkte hingewiesen. Bei der Route Saver sniffing 8a haben wir explizit eine Warnung dazugeschrieben: «Klettere die Route nur, wenn du dich gut fühlst. Achte darauf, dass du die Dosierung der Schwierigkeit deinem Können anpasst. Sei dir bewusst, dass der scharfe Fels ein Infektionsrisiko bedeutet. Wenn du diese Route mit anderen mischst, sind die Wirkungen kaum einzuschätzen und die Belastungen für Körper und Psyche können unberechenbar werden.»
Das tönt ja gefährlich. Aber eben auch verführerisch, weil es das Verlangen nach dem wiederholten Konsum von Ängistirner Kletterrouten weckt. Kennt man diese Problematik denn nicht von anderen Klettergebieten, Stichwort «Der Griff zum Klettergriff»?
Nicht in diesem Ausmass! Der Sektor Beatecéüse stellt alles Bisherige in den Schatten. Gerade wenn dir hier eine schwere Route onsight (= im ersten Anlauf) gelingt, können deine Endorphine kurzzeitig ein Level erreichen, das kompletten Kontrollverlust zur Folge hat. Und bereits am nächsten Tag wirst du das Verlangen nach weiteren Onsights nicht mehr unterdrücken können.
Haben denn alle Routen in Gischterwäng dieses Suchtpotenzial?
Bei weitem nicht! In Gischterwäng ist längst nicht alles lohnend. Der Sektor «Ungeri Wang» ist – unter uns gesagt – für die Katz: Mürber Fels, in dem alle Haken wackeln, und brüchig ohne Ende. Du kannst dort dieselbe Route mehrmals Onsight klettern, nicht etwa, weil du an Alzheimer leidest (Pesche lacht hämisch), sondern weil jedes Mal neue Griffe zum Vorschein kommen. Und nie wird sich in deinem Kopf ein Verlangen nach mehr einstellen. Ich habe Tinu und Röfe immer gesagt: Lasst das sein mit dem Einrichten dieser Wand. Es hat mich nicht verwundert, als sich dann am Ausstieg ein grosser Brocken löste und es für den Sicherer augenblicklich Nacht wurde.
Aber wenn ich es mir jetzt so überlege, könnte dieser Sektor vielleicht dereinst als Entzugssektor für Klettersüchtige eine wichtige Aufgabe erfüllen (Pesches Blick schweift nachdenklich in die Ferne). Hier wird jedenfalls jeder schnell wieder clean.
Entzugssektoren für Klettersüchtige – ist das die Zukunft?
Man muss mit der Zeit gehen. Ich beobachte in der Kletterszene, dass sich dafür langsam aber sicher ein Bewusstsein entwickelt. Kletterschulen bieten jetzt schon Ausbildungskurse in Clean Climbing an.
Du warst ja auch nicht immer clean! Beim Stöbern in deinen alten Interviews stösst man auf Aussagen wie diese: «Die Alpinisten sassen beim Wein, wir Kletterer rauchten einen Joint.»
Gut recherchiert! Obwohl es Ansichtssache ist, ob man hier statt des gelegentlichen Joints nicht eher die anhaltenden Durstlöschtechniken der Hüttenwarts- und Bergführerfraktion gewisser Bergkantone hinterfragen sollte (Pesche lacht diskret).
Aber das sind doch uralte Traditionen! Ich muss dir deine Meinung lassen – aber halt auch festhalten, dass das Brauchtum der verflüssigten einheimischen Kräuter und Wurzeln als Kulturgut der Alpenkantone schützenswert und nicht in Frage zu stellen ist! Aber zurück zu Gischterwäng: Ist das Erschliessungspotenzial schon ausgeschöpft oder kann man in den nächsten Jahren mit weiteren Routen oder neuen Sektoren rechnen?
Da streiten sich die Klettergeister: Wo für die einen das Routennetz schon jetzt zu engmaschig ist, ist für die anderen noch nicht einmal die Hälfte des Potenzials erschlossen. Grundsätzlich halten wir Erschliesser uns an folgende Faustregel: Wenn ich denselben Klettergriff für drei Routen verwenden kann (für die eine Route mit links, für die andere Route mit rechts, für eine dritte Route beidhändig-mittig) dann ist der Moment gekommen, wo ich keine neue eigenständige Route mehr einbohre, sondern verbindliche Routenkombinationen definiere. Und wenn auch diese nach den Regeln der Kombinatorik ausgeschöpft sind, kann ich zu den Routenkombinationen immer noch neue Varianten definieren, z. B. Variante 7b+: Routenkombination C3/C4 ohne Kante von C2 aber mit Seitgriff von C5 usw.
Da komme ich als Nichtkletterer nicht mehr mit. Und in der Schule hatte ich im Rechnen einen Fensterplatz. Was ergibt im Klettersport zum Beispiel 5a + 8b+?
(Pesche verdreht die Augen) Ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen, das Interview zu beenden. Dafür lade ich dich ein, mit mir einen Tag in die Gischterwäng klettern zu kommen.
Gute Idee, ich lass mir das Klettern gerne mal von einem Profi zeigen. Ich danke dir für die Einladung und das Interview und wünsche dir – wie sagt man unter Kletterern? – Top grip!